Die Ölpreise sind unter ihre Grenzkosten gefallen. Das heißt, dass die Produktion von Rohöl in einigen Förderstätten teurer ist als ihr Preis. Noch muss man sich keine Sorgen um die Profitabilität der Ölindustrie als Ganzes machen. Denn im Durchschnitt erzielen sie bei den aktuellen Preisen Gewinne. Einige kleinere Firmen dürften aber bereits die Gewinnzone verlassen haben. Damit wird die Produktion zwangsläufig sinken. Eine Senkung der Produktion wird in Kürze auch von der OPEC beschlossen werden. Um den Preissturz zu stoppen, müsste sie unerwartet drastisch ausfallen. Unter normalen Umständen hätte der Verfall längst einen Boden gefunden. Aber die Umstände sind nicht normal. So nimmt der Abwärtstrend der Ölpreise seinen Lauf. Weniger deutlich fällt in den letzten Tagen der Aufwärtstrend des Dollars aus. Die reverse Symbiose von Öl und Dollar könnte sich nun auflösen. Sie ist ein Relikt einer von spekulativer Gier geprägten Preisbildung, also der Zeit vor dem Crash. Nun regiert spekulative Angst.
Der Nachfragerückgang fällt deutlich geringer aus als der Preisrückgang. Zwar prognostiziert die IEA (Internationale Energie Agentur) das geringste Nachfragewachstum der letzten zehn Jahre. Mit 0,5 Prozent bleibt aber immerhin ein Wachstum übrig. Für 2009 wird ein Wachstum von 0,9 Prozent angenommen. Die OPEC geht für 2008 ebenfalls noch von einer schwachen Steigerung der Nachfrage aus. Für 2009 prognostiziert sie eine leichte Nachfragesenkung. China meldet für die ersten neun Monate des laufenden Jahres eine Steigerung der Rohölimporte um 16,5 Prozent. Diese Zahl deutet auf ein sehr robustes Wachstum hin. Da im September ein Allzeithoch der Importe erreicht wurde, darf spekuliert werden, dass das Land die mittlerweile günstigen Preise zur Aufstockung der Lager nutzt. Das würde die These vom rasanten Wachstum relativieren. Insgesamt scheinen weltweite Nachfrageentwicklung und Preisentwicklung dennoch in keinem plausiblen Verhältnis zueinander zu stehen.
Für den gestrigen Preisrückgang gibt es mit den US-Bestandsdaten durchaus eine plausible Erklärung. DOE (Department of Energy) und API (American Petroleum Institute) meldeten gestiegene Vorräte gegenüber der Vorwoche. Die Zahlen lauten wie folgt:
Rohöl: +5,6 Mio. Barrel (DOE) bzw. +2,0 Mio. Barrel (API)
Heizöl und Diesel: -0,5 Mio. Barrel (DOE) bzw. +0,9 Mio. Barrel (API)
Benzin: +7,0 Mio. Barrel (DOE) bzw. -0,5 Mio. Barrel (API)
In Summe ergibt sich ein Aufbau von 12,1 (DOE) bzw. 2,4 (API) Mio. Barrel. Die Importe sind geringer als in der Vorwoche und im Vorjahr. Die Raffinerieverfügbarkeit ist geringfügig auf 82 Prozent gestiegen. Der Wert ist schwach. Dennoch erregt er derzeit, wie die Bestandsdaten insgesamt, keine Gemüter. Die Musik spielt auf einer anderen, größeren Bühne.
Dort wird von Sein oder Nichtsein des neoliberalen Wirtschaftssystems gesprochen. Nachdem sich das Schaffen von Werten allein innerhalb eines von allen Fesseln befreiten Finanzsystems als nicht funktionierender Trick entpuppt hat, ist der Nimbus des ewigen Wirtschaftswachstums in Frage gestellt. Der fehlerhafte Trick hat die Finanzwelt in Brand gesteckt. Staaten eilen als Feuerwehr zur Hilfe. Beobachter sind sich nicht sicher, ob sie in der Lage sein werden, den Brand zu löschen oder ob sie ihm selbst zum Opfer fallen werden. Ein erstes, kleines Opfer ist mit Island bereits zu beklagen. Die Tatsache, dass es bisher noch keine Rettungsübungen für derartige Großkatastrophen gab, schürt Zweifel an der Professionalität der handelnden Akteure. Die sind zum Improvisieren verdammt. Vollkommen unvorbereitet werfen sie wesentliche Grundsätze ihrer langjährigen Politik in der Hoffnung über Bord, Rettung bringen zu können. Dass diese Inszenierung die Börsen auf eine Talfahrt schickt, ist leicht zu verstehen. Den Ölpreis reißt es einfach mit. Im Gegensatz zu tiefen Aktienkursen, haben zu tiefe Ölpreise eine Zwangswirkung auf die Realwirtschaft. Weil die nötige Infrastruktur der Ölversorgung nicht weiter entwickelt wird, kommt es mit Verzögerung zu Bremswirkungen im Wirtschaftskreislauf.
In die Sorge um die richtigen Aktionen des Staates mischt sich Enttäuschung über die Halbherzigkeit der bisher geleisteten Politik. Diese Enttäuschung ist weniger die Sache der Börse als des breiten Volkes. Das sorgte sich um zu hohe Energiepreise. Die hätten mit einem beherzten Programm des Staates zur Neuausrichtung des Energieverbrauchs an der Wurzel gepackt werden können. Dabei bestünde die Chance zu einer Aufbruchstimmung und zur Schaffung vieler neuer Arbeitsplätze. Das Volk sorgt sich um die Bildung. Die hätte mit einem beherzten Programm des Staates und zum Wohl des ganzen Volkes wie Phönix aus der Asche gehoben werden können. In beiden beispielhaft genannten Programmen steckt eine gestalterische Chance für die Zukunft. An den Rettungspakten, deren Umfang die Bedarfe anderer Programme weit überschreitet, ist wenig Zukunft zu erkennen, wenn man die Möglichkeit neuer Regelmechanismen der Finanzmärkte mal despektierlich vernachlässigt.
Auch heute Morgen wird beim Öl mehr die skizzierte große Bühne gesehen als der Ölmarkt selbst. Die hatte gestern Abend ein spätes Hoch an den US-Aktienmärkten erlebt. Dadurch wird Öl etwas teurer. Ein Trendwechsel ist aber nicht zu erwarten. Die Tonne Gasöl kostet 696 Dollar. Das Barrel Rohöl kostet in New York 72,32 Dollar.